Gruppe o2

  • Increase font size
  • Default font size
  • Decrease font size
18
Nov

Prof. Roland Girtler


Donnerstag - 18. Nov. um 19:00 Uhr

 Achtung Terminänderung auf Donnerstag 18. November 2010!

Infos:



 

Vortrag - mit Tiefgang und Humor


Die Landler und ihre Verbannung
“Wenn`s gilt die Seel und auch das Gut -
der Kampf der evangelischen Bauern”

Der Untergang der altösterreichischen
Landler in Siebenbürgen/Rumänien










Professor Roland Girtler, vagabundierender Kulturwissenschaftler, erzählt über den Kampf der oberösterreichischen Evangelischen und ihre Verbannung nach Siebenbürgen.


Univ. Prof. Dr. Roland Girtler


Univ. Prof. Dr. Roland Girtler lehrt am Institut für Soziologie der Universität Wien. Der 1941 in Wien geborene Kulturanthropologe und Soziologe ist kein abgehobener Wissenschaftler, keiner aus dem Elfenbeinturm und doch ein Sonderling seiner Zunft: "Er radelt durch die Welt, 'Professor und Pilger' steht auf seinen Visitenkarten. (...) Er liebt das Wirtshaus, den Stammtisch. Er ist am liebsten dort, wo es am meisten menschelt.", schrieb Günther Nenning ("Die Presse" vom 13. November 2002) anlässlich Girtlers Neuveröffentlichung "Echte Bauern. Der Zauber einer alten Kultur". Ein Buch, auch über die Sachsen und Landler, nicht sein erstes und wohl kaum sein letztes. Das Grundlagenmaterial dazu sammelte der Soziologieprofessor auf Exkursionen mit seinen Studenten zu den evangelischen Landlern. Weshalb ihn die Landler so faszinierten, fragte Robert Sonnleitner, selbst ein Landler, den Gelehrten jüngst in einem Interview.
Sie beschäftigen sich bevorzugt mit Randkulturen: Vagabunden, Wilderer und soziale Rebellen. Bezeichnenderweise trägt eines Ihrer Bücher den Titel "Theorie der Unanständigkeit". Wie definieren Sie Randkulturen?

Jede Gesellschaft ist bunt, besteht aus vielen Randkulturen, die alle ihre Geschichte, ihre eigene Sprache und ihre Tricks des Überlebens haben. Unter Randkulturen verstehe ich Gruppen, deren Menschen vom "braven" Bürger als anders, absonderlich, unbequem, "unanständig", gefährlich oder sonstwie als problematisch gesehen werden, wie eben Vagabunden, Ganoven, Dirnen, Wilderer, jugendliche Rebellen oder eben Fremde, mit denen man nichts zu tun haben will.

Begründet sich Ihr Interesse auch aus Ihrer Biographie heraus?

Ich bin als Kind von Landärzten im oberösterreichischen Gebirge aufgewachsen und von daher kenne ich die alten Bauern, zu denen auch die Wildschützen gehörten. Charakteristisch für alle diese Leute sind eine alte Geschichte und eine alte Sprache.

Professor Girtler, Sie fahren jeden Frühsommer mit Ihren Studenten nach Siebenbürgen, zu den "Landlern", die von Maria Theresia Ihres evangelischen Glauben wegen vertrieben wurden. Wann sind Sie zum ersten Mal auf die Landler aufmerksam geworden?

Univ. Prof. Dr. Roland Girtler ...Univ. Prof. Dr. Roland GirtlerDas war 1989, nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, als ich hörte, dass in Siebenbürgen noch die Nachfahren der dorthin im 18.Jahrhundert verbannten österreichischen Protestanten, die so genannten Landler, leben und ihre alte österreichische Sprache sprechen. Und ich bin dankbar, dass ich mit anderen Wissenschaftern 1990 zunächst zu einem kleinen Forschungsprojekt nach Großpold fahren durfte. Seit damals bin ich jedes Jahr für mindestens zwei Wochen in Großpold.

Die Siebenbürger Landler haben Sie (zusammen mit Ihren Studenten) bereits in mehreren wissenschaftlichen Publikationen thematisiert.

Die Landler faszinieren mich vor allem aufgrund ihrer Geschichte, die von Rebellentum, Mut und Beharrlichkeit erzählt. Ihre Geschichte ist eng mit dem oberösterreichischen Bauernkrieg von 1625 verbunden. Dieser nahm im "Landl", dem Gebiet bei Eferding in Oberösterreich, seinen Ausgang. Daher leitet sich die Bezeichnung "Landler" ab. Die protestantischen Bauern kämpften einen kühnen Kampf, viele wurden brutal niedergemetzelt. Die Landler wurden schließlich aus Österreich (aus Oberösterreich, der Steiermark und Kärnten) nach Siebenbürgen verbannt. Dort gingen sie mit den Sachsen eine fruchtbare Symbiose ein und blieben ihrer bäuerlichen Kultur bis heute treu. Als Forscher empfinde ich es als eine schöne Aufgabe, diese alte Kultur der Landler und Sachsen noch erleben und beschreiben zu dürfen.

Inwieweit sind die Siebenbürger Landler eine "Randkultur"?

In doppelter Hinsicht: Zum einen wurden sie als Protestanten von den katholischen Herrschern in Österreich bis ins 18. Jahrhundert als Verbrecher gesehen, die man aus Österreich verbannen wollte und auch verbannt hat. Zum anderen mussten sich die Landler, um ihre Kultur zu erhalten, genauso wie die Sachsen in Siebenbürgen vor allem von den Rumänen und Zigeunern abgrenzen. Als Deutsche mit ihrer eigenen Sprache und Religion haben sie in einer ihnen kulturell fremden Welt mitunter Schwierigkeiten, wie zum Beispiel nach dem letzten großen Krieg, als man junge Deutsche aus Siebenbürgen nach Russland zur Zwangsarbeit verschleppte.

Die in Großpold lebenden "Zigeuner" waren schon oft Forschungsobjekt Ihrer Studenten. Was ist das Besondere an dieser "Randkultur"?

Für meine Forschungen sind die Zigeuner (den Begriff verwende ich nicht abwertend) insofern wichtig, als gewisse Zigeuner bei Landlern und Sachsen als Mägde und Knechte arbeiten. Und sie gehören zum Leben in den Dörfern. Wohl genießen die Zigeuner bei den Deutschen nicht immer hohes Ansehen und man spricht mitunter abwertend über sie, aber dennoch reden die Zigeuner in höchster Achtung von Sachsen und Landlern. Sie meinen, in der Vergangenheit und auch jetzt hätten die Deutschen sich nie schlecht gegenüber den Zigeunern verhalten. Während des Krieges hätte man die Zigeuner, wie diese selber sagen, sogar beschützt.

Welche Charaktereigenschaft schätzen Sie bei den siebenbürgischen Landlern am meisten?

Die in Großpold und anderen Dörfern heute noch verbliebenen Landler schätze ich ob ihres Fleißes, ihrer Treue zu ihrer alten Sprache und Kultur, ihrer großzügigen Gastfreundschaft, ihrer Anständigkeit und überhaupt wegen ihres weiten Geistes.

Wie beurteilen Sie aus Sicht des Soziologen die momentane Situation der Landler in Siebenbürgen?

Die Kultur der Landler (und Sachsen) in Siebenbürgen ist am Untergehen. Nur mehr Alte sind als Bauern hier aufzufinden. Die Jugend der Landler ist dem Glitzern des Westens, der durch und durch amerikanisiert ist, gefolgt.

Vor einigen Wochen haben Sie an der Universität Klausenburg anlässlich der Eröffnung der Österreich-Bibliothek einen Vortrag mit dem Titel "Die Landler - Rebellen aus Österreich und Träger einer alten Bauernkultur in Siebenbürgen". Warum gerade dieses Thema?

Mir war es ein Anliegen, rumänischen Studenten der Universität Klausenburg die Geschichte und das Leben der Landler, deren Vorfahren echte österreichische Rebellen waren, nahe zu bringen. Damit verband ich eine Beschreibung der alten Bauernkultur der Landler (und Sachsen).

In Ihrer zuletzt erschienenen Publikation mit dem Titel "Echte Bauern - vom Zauber einer alten Kultur" gehen Sie auch auf die bäuerliche Kultur der deutschen Bauern in Siebenbürgen, speziell in Großpold ein. Was ist/war an dem sächsischen und landlerischen Bauern echt?

Echte Bauern gibt es bei uns in Österreich und Deutschland nicht mehr. Echte Bauern waren die früheren autarken Bauern bei uns bis in die sechziger Jahre, echte Bauern sind heute noch die landlerischen bzw. sächsischen Bauern in Großpold und in anderen deutschen Dörfern. Von diesen echten Bauern kann man einiges lernen. Darum schrieb ich dieses Buch über die "echten Bauern".
Der echte Bauer, wie ich ihn verstehe, ist kein Spezialist, er ist ein Mensch mit vielseitigem Wissen und er ist im Wesentlichen eigenständig, er kann mit dem, was er züchtet und anbaut , leben. Ich habe alle Achtung vor dem echten Bauern, da er ein großes Wissen mit sich führt, das sich auf die Natur bezieht. Bei uns in Oberösterreich im Gebirge wurden die Bauern zu reinen Produzenten von Fleisch und Milch. Nicht einmal Hühner, die früher bei uns auf jedem Bauernhof zu sehen waren, haben sie mehr - oder höchst selten. Anders ist dies in Großpold, wo der Bauer noch ein echter Bauer ist, denn er hat seine Tiere, seinen klassischen Misthaufen mit Hühnern, seinen Weingarten, seine Felder und seinen Garten vor und hinter der Scheuer.

Sie beschreiben die Bauern in der EU als "Schauspieler, die den Sommergästen Almleben vorspielen". Was macht den echten Bauern aus im Unterschied zu unseren heutigen Bio-Bauern?

Die Bauern bei uns sind auf den Markt hin orientiert. Der echte Bauer ist dies nicht. Auch der Bio-Bauer ist kein echter Bauer. Er ist ein Spezialist, der gefördert wird. Der Bauer in unseren Alpengegenden muss sich "verkaufen", um entsprechend überleben zu können. Daher wird den staunenden Sommergästen, die einmal echte Tiroler Bergbauern sehen wollen, eine "echte" bäuerliche Kultur vorgespielt. Es werden Heimatabende veranstaltet und der Almabtrieb im Herbst mit geschmückten Kühen wird zu einem Theater für den Fremdenverkehr und das Fernsehen. Ich weiß von Fällen, bei denen die Kühe mit dem Traktor auf die Alm gebracht werden, um sie dann für das Publikum und das Fernsehen zu Tal zu führen. Typisch für die echte Alm war, dass das Milchvieh hinauf getrieben wurde, damit die Bauersleute bei der Erntearbeit entlastet waren. Heute wird kein Getreide mehr im Gebirge angebaut und daher ist eine echte Alm auch gar nicht mehr notwendig für die Milchkühe. Auf der Alm heute ist meist nur mehr Jungvieh. Und wenn doch Milchkühe auf der Alm sind und diese dort gemolken werden, so tun dies die Bauern wegen der Förderung und wegen des besseren Preises der Milch. Es ist eine andere bäuerliche Welt bei uns. Der Bauer wurde zum Landschaftspfleger. Dafür soll er auch bezahlt werden.

Das ist in Siebenbürgen noch anders?

Ja. Wie vor Jahrhunderten werden zum Beispiel in Großpold täglich während des Sommers die Kühe von einem Dorfhirten (meist ein Zigeuner) auf die gemeinsame Weide, die Hutweide, gebracht. Bei uns war es einmal ähnlich. Wenn ich mir die alten Bilder des holländischen Malers Breughel aus dem 16. Jahrhundert ansehe, auf denen u.a. das bäuerliche Dorfleben gezeigt wird und die Kühe von der Weide zum Hof gebracht werden, so fühle ich mich nach Siebenbürgen versetzt. Aber auch diese bäuerliche Kultur ist am Verschwinden.
Bei den Landlern in Großpold gefällt mir besonders die Pflege ihres Bauerngartens, der voll der Buntheit ist und von der Liebe der Bäuerin für die Blumen und das Gemüse erzählt. Ich habe diesem Garten ein eigenes Kapitel in meinem Buch gewidmet. Ich habe höchste Achtung vor diesen echten sächsischen und landlerischen Bauern in Siebenbürgen, soweit es sie noch gibt. Und ich danke jenen, vor allem Anneliese und Andreas Pitter, die mich mit offenen Armen in Großpold aufgenommen haben und es immer wieder tun. Ende Mai fahre ich wieder nach Großpold.

Vielen Dank für das Gespräch.

Link: Institut für Soziologie an der UNI Wien

 

Rezension:

Sebastian Schröer

Roland Girtler (Hrsg.) (2007). Das letzte Lied vor Hermannstadt. Das Verklingen einer deutschen Bauernkultur in Rumänien. Wien, Köln und Weimar: Böhlau Verlag. 351 Seiten, ISBN 978-3-205-77662-8, EUR 29,90

Zusammenfassung: Der Wiener Kulturwissenschaftler und Soziologe Roland GIRTLER beforscht seit mehr als 15 Jahren die sich rapide wandelnde Kultur der "deutschen" Minderheit in Rumänien. Jährlich reist er mit einer Gruppe von Studierenden sowie engen Freunden nach Siebenbürgen, um mit ihnen ethnografische Feldforschungen zu betreiben. Daraus entstandene Forschungsergebnisse sind im hier rezensierten Band zusammengefasst. Das Buch behandelt das Leben der deutschsprachigen Bevölkerung in Siebenbürgen sehr anschaulich, vielschichtig und informativ. Abgesehen von wenigen Kritikpunkten (wie z.B. kleineren formalen Mängeln sowie ein nicht immer strengen wissenschaftlichen Standards genügender Umgang mit Quellenangaben) handelt es sich um einen sehr schönen Band, der absolut empfehlenswert ist für Menschen, die an der Methode der Feldforschung und deren Ergebnissen interessiert sind, sich mit Randkulturen auseinandersetzen oder aber mehr über die "deutsche" Minderheit in Siebenbürgen erfahren möchten.

Keywords: Ethnografie; Feldforschung; Randkulturen; sozialer Wandel; dichte Beschreibung

Inhaltsverzeichnis

1. Motivation zum Verfassen der vorliegenden Rezension (und die Folgen)

2. Erläuterungen zum Sujet

3. Anmerkungen zum formalen Aufbau des Bandes

4. Das thematische Spektrum der Einzelbeiträge

5. Kritische Würdigung des Bandes

6. Fazit

Danksagung

Anmerkungen

Literatur

Zum Autor

Zitation

 

1. Motivation zum Verfassen der vorliegenden Rezension (und die Folgen)

Der folgende Text selbst beinhaltet zum Teil Ergebnisse (eigener) ethnografischer Feldforschung und Erfahrungen im untersuchten Feld und nähert sich in seinem Duktus intendiert dem hier rezensierten Original an. In diesem Zusammenhang seien einige erklärende Anmerkungen vorangestellt: [1]

Eigentlich zählen "Verklingende Bauernkulturen" nicht zu meinen wissenschaftlichen Interessensgebieten. Abgesehen von der Methode der Feldforschung und der Lektüre einiger weiterer Beiträge des Herausgebers des Bandes, Roland GIRTLER, unter anderem zum Thema Randkulturen, die ich im Rahmen meiner Dissertation kennen- und schätzen lernte, fokussiert sich mein wissenschaftliches Betätigungsfeld vorrangig auf Jugendszenen. [2]

Eine "semi-private" Reise nach Rumänien führte mich im Jahr 2008 nach Siebenbürgen/Transsylvanien. Da ich mich regelmäßig über die Rezensionsangebote von FQS informiere, wurde ich auf den Sammelband aufmerksam und forderte ihn spontan an, um mehr über Land und Leute zu erfahren. Ursprünglich hatte ich geplant, das Buch nach meiner Rückkehr zu lesen und anschließend zu besprechen, da ich meine Zeit "vor Ort" neben touristischen Aktivitäten mit eigenen Feldforschungen zum Thema HipHop und Jugendszenen verbringen wollte. Da der Band jedoch am Tag der Abreise im Briefkasten lag, entschied ich mich, ihn mitzunehmen. [3]

Gleich zu Beginn der Reise plagte mich während eines Aufenthaltes in Petrosani (deutsch: Steinthal) eine Erkältung, sodass ich beschloss, einen Tag in der Unterkunft zu verbringen, um mich zu kurieren. Eher aus Langeweile fing ich an, in dem Buch zu lesen und erste Notizen für die Rezension anzufertigen. Nebenbei – so dachte ich – würde ich auch mehr über die Gegend rund um Sibiu (deutsch: Hermannstadt), die nächste Stationder Reise, erfahren. Die Folgen dieser Lektüre waren bemerkenswert: Durch Zufall traf ich zwei Tage später einen Protagonisten mehrerer Beiträge des Buches bei einem Rockkonzert in Hermannstadt (das Festival "Artmania 2008") an einem Bierstand. Da er deutsch redete, kam ich mit ihm ins Gespräch, und er erzählte mir, dass er in einem Dorf ganz in der Nähe wohne und mit dem Motorrad da sei. Als ich daraufhin den NamenGIRTLER erwähnte und ihn fragte, ob er denn "der J.S." sei – als Indizien dafür dienten mir der offensichtliche Musikgeschmack und das erwähnte Motorrad – war sein Erstaunen zunächst groß, und er meinte: "Ja, der GIRTLER kommt hier jedes Jahr her, und ich weiß auch von dem Buch!" [4]

J.S. hat mich später nach Großpold (rumänisch: Apoldu de Sus), dem bevorzugten Ortder Feldforschungen der "Girtler-Truppe" (dieser Begriff stammt vom Herausgeber selbst, vgl. S.9ff. des hier rezensierten Bandes), eingeladen. Wir stehen seitdem in Kontakt, zuletzt habe ich ihn im Oktober 2009 besucht. Inzwischen kenne ich das Dorf und zahlreiche Schauplätze sowie einige der in den Beiträgen beschriebenen Personen. Dies ist insofern schwierig, da dieser Umstand eine Balance zwischen Nähe und Distanz einerseits zum Buch, andererseits zu den "Beforschten" erschwert. Im Rahmen derBesprechung von Aufbau und Inhalt des Bandes wird versucht, dieses Kontextwissen auszusparen. Bei der abschließenden Bewertung hingegen werde ich bewusst auf eigene Erfahrungen Bezug nehmen. [5]

2. Erläuterungen zum Sujet

Die Kultur der deutschsprachigen Minderheit in Siebenbürgen, von Rumän/innen pauschal als "Deutsche" bezeichnet, ist der Forschungsgegenstand der im Band vertretenen Autorinnen und Autoren. Die folgenden Anmerkungen sollen im diesem Zusammenhang zum besseren Verständnis dieser Rezension dienen, da derForschungsgegenstand den inhaltlichen Rahmen und den kleinsten gemeinsamen Nenner der Einzelbeiträge darstellt. Die Aussagen basieren einerseits auf den vom Herausgeber des Bandes im ersten Kapitel dargelegten Ausführungen, anderseits auch auf eigenen Erfahrungen vor Ort: [6]

Die deutschsprachige Minderheit in Siebenbürgen setzt sich zusammen aus den "Landlern" (den sogenannten "Altösterreichern"), die zwischen 1734 und 1756 aus den "Erblanden" ihrer österreichischen Heimat umgesiedelt wurden, und den sogenannten "Sachsen", die sich bereits im 12. Jahrhundert in Siebenbürgen ansiedelten und deren Herkunftsgebiete zum großen Teil im heutigen Elsass, in Lothringen und Luxemburg sowie in den Gebieten der damaligen Bistümer Köln, Trier und Lüttich lagen. [7]

Die Lebensbedingungen der "deutschen" Bevölkerung in Siebenbürgen, die historisch betrachtet als auf Subsistenzwirtschaft ausgerichtete Bauernkultur mit Migrationshintergrund entstanden ist, sind seit einiger Zeit vielfältigen Veränderungen unterworfen. Mit dem Ende der Allianz zwischen Rumänien und den Achsenmächten Italien, Deutschland und Japan und dem darauf folgenden Bündnis zwischen rumänischen Kommunist/innen und der ehemaligen Sowjetunion unter der Führung Stalins im Jahr 1944 wurden die deutschen Einwohner/innen Rumäniens als vermeintliche oder tatsächliche Verbündete der Nationalsozialist/innen enteignet, zu Reparationsleistungen herangezogen, zum Teil in Arbeitslager verbannt und in der Folge von der rumänischen Mehrheitsgesellschaft oft massiv diskriminiert. Während des nationalkommunistischen Ceausescu-Regimes (1967-1989) wurden Angehörige derdeutschsprachigen Minderheit als Mittel der Devisenbeschaffung an die damalige Bundesrepublik verkauft. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus kam es durch den politischen Wandel nach Ablösung des Ceausescu-Regimes 1990 zu einer Ausreisewelle. Diese Entwicklungen hatten zur Folge, dass der Anteil der "Deutschen" (neben Landlern und Sachsen auch die "Banater Schwaben", eine weitere deutschsprachige Minderheit im heutigen Rumänien) an der Gesamtbevölkerung Rumäniens von ca. zehn Prozent (1930) auf nunmehr unter ein Prozent (2002, aktuellere Zahlen sind mir nicht bekannt) zurückging. [8]

In dem im hier rezensierten Band beschriebenen Dorf Apoldu de Sus bzw. Großpold lebten vor Beginn des "Exodus" im Jahr 1989 fast 2.000 Deutsche, inzwischen sind es laut Aussage einer älteren Einwohnerin im Oktober 2009 nur noch maximal 60 zum Großteil ältere Landler/innen sowie Sächsinnen und Sachsen. Die Stimmung unter diesen "Zurückgebliebenen", bei denen es sich meist um ältere Menschen handelt, ist von Melancholie und dem Gefühl bzw. dem Bewusstsein gekennzeichnet, dass die eigene Kultur mehr und mehr ausstirbt. [9]

Roland GIRTLER, Kulturwissenschaftler und Soziologe aus Wien, beforscht seit mehr als 15 Jahren die Kultur(en) der deutschen Minderheit in Siebenbürgen. Gegenstand dieser Forschung sind Traditionen, Bräuche und Alltagspraxen der Akteure, welche vor dem Hintergrund der und in Bezug auf die jeweiligen sozialen und strukturellen Gegebenheiten vor Ort – in diesem Fall in Großpold – agieren. Die dargestellten Ergebnisse basieren auf jährlichen Feldaufenthalten des Herausgebers gemeinsam mit engen Freunden sowie jeweils einer Gruppe von Studierenden, die um Pfingsten herum nach Großpold reisen und sich mit den von GIRTLER vorgeschlagenen Instrumenten ethnografischer Feldforschung (teilnehmende Beobachtung und ero-episches Interview, vgl. dazu GIRTLER 2001) dem Untersuchungsgegenstand nähern. Die aus den Feldforschungen entstandenen Ergebnisse bilden das Sujet des hier rezensierten Bandes. [10]

3. Anmerkungen zum formalen Aufbau des Bandes

In insgesamt 32 Einzelbeiträgen von 22 Autorinnen und Autoren wird facettenreich dieKultur der deutschsprachigen Minderheit in Rumänien behandelt. Vier von ihnen, darunterGIRTLER mit insgesamt neun Kapiteln, sind mit mehreren Beiträgen vertreten; ein Abschnitt ist eine Koproduktion zweier Verfasserinnen. [11]

Neben Wissenschaftler/innen und Studierenden zählen unter anderem auch die Enkelin sowie Freunde des Herausgebers zu den Autorinnen und Autoren der einzelnen Beiträge des Bandes. Dies hat den Vorteil, dass mannigfaltige Perspektiven auf den Gegenstandder Untersuchung eröffnet werden, allerdings unterscheidet sich der Stil des konkreten ethnografischen Vorgehens dadurch zum Teil erheblich. [12]

Umfang sowie die inhaltliche Dichte der Einzelbeiträge variieren ebenfalls: Von knappen Darstellungen/Beschreibungen ausgewählter Sachverhalte, die zum Teil lediglich ein bis zwei Textseiten umfassen, bis hin zu recht ausführlichen Abhandlungen mit einer Vielzahl an mehr oder weniger wichtigen Kontextinformationen. Insbesondere GIRTLER verblüfft zum Teil mit Randnotizen, die eigentlich nichts mit dem eigentlichen Gegenstand des Buches – der verklingenden Bauernkultur in Rumänien – zu tun haben. So finden in einem Kapitel über eine Wanderung nach Urwegen, ein Dorf in der Nähe von Großpold, gleichberechtigt neben Informationen zur Geschichte und dem Wandel derLebensbedingungen der deutschsprachigen Minderheit in Rumänien unvermittelt dieZahnschmerzen eines Studenten namens "Gerald" Erwähnung – damit ist offenbar Gerald WOLF gemeint, der ebenfalls mit einem Beitrag im Band vertreten ist (S.29). Ein unmittelbarer Zusammenhang mit dem im Artikel nach Aussage der Überschrift eigentlich verhandelten Thema erschließt sich mir jedoch nicht. [13]

Literatur- und sonstige Quellen, sofern auf solche Bezug genommen wurde, sind den einzelnen Beiträgen zugeordnet, ein übergreifendes Literaturverzeichnis existiert nicht. Am Ende findet sich ein Verzeichnis der im Band vertretenen Autorinnen und Autoren. [14]

Während einige Autorinnen und Autoren, vor allem die beteiligten Studierenden, sich aufdie Deskription ihres jeweiligen Untersuchungsgegenstandes im Sinne einer "dichten Beschreibung" beschränken, sieht GRADWOHL, späterer Biobäcker und ehemaliger Kommilitone von GIRTLER, in seinem Beitrag summa summarum neun Hypothesen und Annahmen rund um den Stellenwert des Brotes bestätigt (S.164f.), die er jedoch vorher nicht – obgleich auf S.154 behauptet – expliziert hat. Dies kann mit qualitativer Forschung "sozialisierte" Lesende verwirren, sind Vorab-Hypothesen, folgt man GLASER und STRAUSS (1998), doch ein absolutes "no go". [15]

Ein interessanter Aspekt ist, dass der jeweilige Zugang zum Untersuchungsgegenstand oftmals biografisch geprägt erscheint. So war z.B. PIEPER, Autor eines Beitrages über den deutschen Imker in Großpold, ein "Hobby Imker"; der Verfasser des im Band enthaltenen Textes über traditionelle handwerkliche Berufe, WOPPMANN, hat früher in einer Schreinerei gearbeitet und Hans GRADWOHL, der gerade erwähnte Biobäcker, schreibt über die Bedeutung von Brot und Getreide. [16]

4. Das thematische Spektrum der Einzelbeiträge

Die Einzelbeiträge behandeln verschiedenste Themenbereiche bzw. beinhalten zahlreiche ethnografische Skizzen sozialer Wirklichkeit wie z.B. die Umstände des Reisens vor Ort ("Die Taxifahrt nach Großpold – Ein Essay" von Reinhard K. HORETH), eher offen angelegte Fragestellungen (wie der Beitrag von Thomas JURNISCHEK mit dem Titel "Eindrücke eines Forschers – 1994 bis 2006"), berufspraktische, handwerkliche sowie mit Nahrungsgewinnung verbundene Themen ("Als Melkerin in Großpold – Ein Essay" von Sigrid GIRTLER, "Brot und Getreide in einer alten Bauernkultur" von Hans GRADWOHL, "Jetzt ist Schnapsbrennen – Ein bäuerliches Ritual" von Christian DOLEZEL oder "Tischler, Schäfer und Ziegelmacher" von Andreas WOPPMANN). Ferner werden Alltagstechniken und soziale Anlässe ethnografisch erfasst (bspw. im Kapitel "Kaffeekränzchen mit Landlerinnen und Sächsinnen von Großpold" von Liselotte KNOLL). Darüber hinaus finden sich im hier rezensierten Band Beiträge zur Umgebung von Großpold (z.B. "Hermannstadt – im Land der vielen Sprachen – Ein Essay" von Martin HAIDINGER), zu den Gegebenheiten und derInfrastruktur "vor Ort" (z.B. der Beitrag von Gerald WOLF über "Die Europastraße – derWeg in die westliche Welt und die Transitbelastung") sowie zu den bevorzugten Treffpunkten der einheimischen Jugend ("Der Teufelsaltar und die Dorfjugend" von Mariella HAGER). Weiterhin werden ethnografische Betrachtungen biografischer Ausschnitte im Kontext gegenwartsdiagnostischer und historischer Fragestellungen ("Seppis Traum wird wahr – Rückkehr eines jungen Landlers" von Mariella HAGER oder auch "Rebell im Sozialismus: Der deutsche Imker in Großpold" von Justinius PIEPER) sowie zu biografisch geprägten (Patchwork-) Identitätskonstruktionen im Kontext von Migration und Re-Migration angestellt ("Ein Landler in Stuttgart" von Nina BRLICA). Darüber hinaus werden Brauchkulturen wie das "Maien-Bringen" (im Beitrag "Junge Burschen zu Pfingsten mit dem Pferdewagen durch den Wald" von Konrad BELAKOWITSCH) behandelt. Im Beitrag "Nuntà und Hochzeit – Hochzeitsbräuche in Rumänien" stellt Thomas JURNISCHEK einen Kulturvergleich an, das Initiationsritual des "Eingrüßens" in die Gemeinschaft der Landlerjugend wird von Mariella HAGER dargelegt. Weitere Beiträge thematisieren den Unterricht in der deutschsprachigen Dorfschule ("Inder Dorfschule – Unterricht in der deutschen Schule in Großpold") von Lieselotte KNOLL sowie intensivpädagogische Einzelfallmaßnahmen, welche in Großpold durchgeführt wurden ("'Verbannt' zu den Verbannten – Ein deutscher Hooligan in Großpold" von Aurelia WOLF und Manuela WRESNIK"). Hilfssysteme, die nach der massiven Auswanderung junger Landler/innen bzw. Sachsen und Sächsinnen die verschwindende nachbarschaftliche Hilfe zu kompensieren versuchen, werden im Beitrag von Iris STERN "Die Landlerhilfe in Großpold" betrachtet. Inhaltlich wird in diesen Beiträgen ein Bruch derWahrnehmung der beforschten Akteure im Wechselspiel der Kategorien Geschichte (im Sinne dessen, was "früher" war) und Gegenwart sichtbar. Zudem werden Handlungsstrategien, um mit dieser Situation umzugehen, thematisiert. [17]

Mehrere Beiträge thematisieren die Bedeutung der (protestantischen) Religion (z.B. derBeitrag "Die Kirche und der Pfarrer im Gemeindeleben" von Marlene PETRITSCH). Explizit auf die Rolle des Pfarrers – z.B. als Streitschlichter bei ehelichen Konflikten – geht Ernestine HEISS ein ("Frühere Familienstreitigkeiten, die Autorität derLandlerfrauen und der Pfarrer"). Ebenso leistet GIRTLER mit seinem Text "DerKirchenbesuch in Großpold – allmähliches Verschwinden der Tracht" einen Beitrag zur religiösen Alltagspraxis. Allerdings werden in diesem Kapitel, das lediglich zwei Textseiten umfasst, neben dem eigentlichen Thema, nämlich dem Verzicht der Kirchgängerinnen und Kirchgänger, sich in traditionellen Trachten zu kleiden, auch Etikette und "Wohlverhalten" thematisiert. In diesem Zusammenhang scheint GIRTLER kein Freund von Krisenexperimenten zu sein:

 "Auf dem Platz vor der Kirche treffe ich alte Bekannte aus Großpold sowie meine Studentinnen und Studenten. Ich freue mich, dass sie gut gekleidet sind. Interessant ist, dass der Einzige,der mit bloßem T-Shirt erscheint, der Zivildiener ist, den die Landlerhilfe hierher nach Großpold geschickt hat. Wäre er mein Student würde ich ihm sagen, dass man als Gast sich in gewisser Weise auch an die Rituale zu halten und sich entsprechend zu kleiden habe. Meine Enkelin Sigrid hat ihr Trachtendirndl an." (S.241) [18]

Weitere Kapitel widmen sich Ritualen im Kontext von Tod und Sterben, wie z.B. "Das Begräbnis – Die Forscher als Totengräber" von Roland GIRTLER. In diesem Beitrag beschreibt GIRTLER quasi "intervenierende Feldforschung": Mangels junger Menschen,die ein Grab ausheben konnten, wurde diese Aufgabe von GIRTLER und zwei Studenten ("Konrad und Reinhard") übernommen. Dem Vorgang des Begrabens bzw. Beerdigens sowie des potenziellen Ablebens vor dem Hintergrund mangelnder, den Traditionen entsprechender Totengräber1) widmen sich auch zwei weitere Beiträge im Band: "DerWandel des Begräbnisses" von Mariella MAYER sowie " 'Bleib da, wir begraben dich schon …' – Landler und Zigeuner2)" von Reinhard SUCHOMEL. Dies verdeutlicht eindrucksvoll den kulturellen und sozialen Wandel im Kontext der demografischen Entwicklung, da die "zurückgebliebene" und "überalterte" Bevölkerung sich nicht dazu inder Lage sieht bzw. in der Lage ist, typische Bräuche, Rituale und Traditionen zu pflegen und zu bewahren. [19]

Die einzelnen Abschnitte werden häufig von Kurzbeiträgen des Herausgebers und "vagabundierenden Kulturwissenschaftlers" (so die ebenfalls mit einem Beitrag im Band vertretende Enkelin Sigrid über ihren Großvater, vgl. S.59) Roland GIRTLER umrahmt,die teilweise in Bezug zu anderen im Band enthaltenen Beiträgen stehen und sowohl Informationen zum theoretischen und methodologischen Rahmen der Einzelstudien darlegen ("Das Abenteuer Forschung – die "Girtler-Truppe"), aber auch Kontextinformationen ("Gedanken zur Landlerhilfe"), Informationen zur Geschichte ("Eine alte deutsche Bauernkultur – der Verrat der Jungen") sowie zu Land, Bewohner/innen und Umgebung ("Hermannstadt – die Handwerksburschen, der deutsche Bürgermeister unddie Zigeunerprinzessin") bieten. Die Erläuterungen zum methodischen Vorgehen (in etwa im Teilabschnitt des einleitenden Kapitels "Fußmärsche und Radtouren", S.14ff.) sind sehr anschaulich gehalten. GIRTLER plausibilisiert beispielsweise die Vorzüge von Eisenbahnreisen, um "ein Gefühl für die Menschen in Rumänien" zu bekommen und verweist in diesem Zusammenhang auf seine Publikationen "Methoden derFeldforschung" (2001) sowie die "10 Gebote der Feldforschung"3), die bereits in dergenannten Publikation enthalten waren und im ersten Beitrag des hier rezensierten Bandes nochmals abgedruckt wurden. [20]

Insgesamt fällt auf, dass kulinarischen Themenstellungen (wie z.B. dem Schnapsbrennen oder der Herstellung von Brot) vergleichsweise viel Raum zugestanden wird. Die aus meiner Sicht spannendsten Momente in den einzelnen Beiträgen ergeben sich jedoch, wenn über konkrete Interaktionen wie z.B. das Erzeugen von Identität durch gemeinsame Rituale (wie das "Maien-Bringen") oder über prägende Erfahrungen aus (Nach-) Kriegszeit und Kommunismus berichtet wird. [21]

5. Kritische Würdigung des Bandes

Neben kleineren formalen Mängeln – so z.B. wird der Vorname des Autors Hans GRADWOHL in der Kopfzeile seines Beitrages stets mit "Hand" angegeben; an einer Stelle wurde vergessen, eine Überschrift als solche zu formatieren (S.165) und GIRTLERs Beitrag zum Begraben beginnt auf S.270, nicht wie im Inhaltsverzeichnis angegeben auf S.269 – gibt es einige Aspekte, die kritikwürdig sind: [22]

Es fällt auf, dass sich der Herausgeber GIRTLER dem WEBERschen Postulat derWerturteilsfreiheit offenbar nicht verpflichtet fühlt. Deutlich wird dies z.B. durch einen Kulturpessimismus in Bezug auf Gegenwart und Zukunft, der in mehreren Beiträgen anklingt. Insbesondere die Rolle der Europäischen Union betrachtet GIRTLERaußerordentlich kritisch, bspw. wenn er über "die EU, die Rumänien in die Fänge genommen hat" (S.70), schreibt. An einigen Stellen muten die Darlegungen GIRTLERs auch sozialromantisch an. So z.B. freut er sich, dass es vor Ort "noch einen echten Misthaufen" gibt (S.15) und erwähnt das "romantische Plumpsklosett" (a.a.O.). Dabei ist GIRTLERs Sicht nicht unbedingt die der "Eingeborenen" bzw. "the native's point of view" (HONER 2000, S.196ff.): Wenn er referiert, dass es in Großpold erfreulich viele naturbelassene Blumenwiesen gebe, geht dies an der Lebenswirklichkeit derEinwohner/innen vorbei, denn darauf angesprochen meinte z.B. J.S. zu mir: "Der hat gut reden. Das waren früher meist bestellte Felder, und die liegen jetzt brach. Eigentlich ist das eine Schande!" [23]

Zum Teil weisen die einzelnen Beiträge Redundanzen auf. Neben den erwähnten Blumenwiesen, die GIRTLER besonders beeindruckt zu haben scheinen, da sie mehrfach Erwähnung finden (so auf den Seiten 18, 26, 27, 42f. und 346), überschneiden sich Informationen in den einzelnen Kapiteln. Im Beitrag zur Rolle der Kirche und des Pfarrers im Gemeindeleben von PETRITSCH wird z.B. verdichtet der Informationsgehalt des Kapitels von KNOLL, die das "Ritual" des Kaffeekränzchen der meist älteren weiblichen Bevölkerung des Dorfes thematisiert, so zusammengefasst:

"Das ist dann so, dass die lieben Damen alle mit einem von zu Hause mitgebrachten Kaffeehäferl und einem Krapfen im Cafe Klagenfurt sitzen und sich freuen, dass sie zusammen sind. Dann kommt die Frau Pfarrer, setzt sich hin und liest Geschichten vor. Dann singen sie ein paar Lieder miteinander – und das war es" (PETRITSCH, S.239). [24]

Berichte über Rituale des Trinkens unter Jugendlichen – dass ein voller Becher herumgereicht und vom Jüngsten in der Runde immer wieder aufgefüllt wird (bis alle "abgefüllt" sind) – wiederholen sich ebenso. Auch dass ausgewanderte Großpoldner/innen ihre Heimat (ebenso wie GIRTLER nebst "Truppe") zu Pfingsten besuchen, wird in mehreren Beiträgen aufgegriffen. Zudem erübrigt sich der Hinweis in fast jedem Beitrag, man sei mit GIRTLER in Siebenbürgen unterwegs gewesen, da derEntstehungskontexts des Bandes in einem eigenen einleitenden Kapitel dargelegt wird. [25]

Ferner ist der Umgang mit Quellenangaben zu kritisieren: Literatur- bzw. Quellenverzeichnisse der Einzelbeiträge sind oft nicht vorhanden bzw. erscheinen, sofern sie vorhanden sind, häufig überflüssig, denn die Literaturverweise beschränken sich – von wenigen Ausnahmen abgesehen – auf die Arbeiten GIRTLERs zu Methoden derFeldforschung (2001) sowie auf dessen frühere Publikationen des Autors über Siebenbürgen (1995, 1997). Für lediglich zwölf der insgesamt 32 Artikel findet sich ein Literatur- bzw. Quellenverzeichnis. Die Verwendung von Quellmaterial wird zudem von den einzelnen Autorinnen und Autoren unterschiedlich gehandhabt. In einigen Beiträgen fällt auf, dass auf die im Verzeichnis angegebene Literatur im Text nicht Bezug genommen wird. Andererseits sind im Band auch Artikel enthalten, in denen explizit einschlägige Literaturquellen angegeben werden, ein Verzeichnis jedoch fehlt. Zudem sind einige Internetverweise mittlerweile "tot". Teilweise finden sich in den Beiträgen zudem Quellen, die den formalen Anforderungen an wissenschaftliche Publikationen nur marginal genügen. [26]

Äußerst problematisch ist die fehlende Anonymisierung, denn mit Ausnahme des Beitrages von KNOLL wurden die Namen der beforschten Protagonist/innen nicht maskiert. Diese Vernachlässigung des Sozialdatenschutzes kann jedoch zu Spannungen führen. Wenn z.B. Nina BRLICA berichtet, dass sie und weitere Mitglieder der "Girtler-Truppe" auf "[…] drei junge Landler, das Brüderpaar Jo.S., J.S. sowie ihren Freund C.L. [stoßen]" und ausführt: "unser Kennenlernen (sic!) verläuft nicht unter den besten Voraussetzungen, denn die drei sind zu diesem Zeitpunkt furchtbar betrunken" (S.304), dann kann dies unangenehme Konsequenzen für die soziale Praxis der beforschten Akteure nach Publikation der jeweiligen Ergebnisse nach sich ziehen. So äußerte z.B. C.L., von mir nach seiner Meinung über das Buch befragt:

"Ich habe das Buch gelesen, es ist ziemlich gut. Die aus der Truppe waren auch alle ganz okay. Von der Nina wurde ich allerdings etwas vor den Kopf gestoßen. Das Kapitel, in dem sie über J.S. und mich schreibt, beginnt sie damit, dass wir ihr bei unserer ersten Begegnung als betrunkene Jugendliche entgegengelaufen gekommen sind. Als das meine Mutter gelesen hat, war sie ziemlich entsetzt." [27]

Er relativierte jedoch umgehend: "Zum Glück steht zwei Seiten später geschrieben, dass ich sehr viel von meiner Mutter halte, dass hat sie schon gerührt und ein wenig milder gestimmt." Der Umstand fehlender Anonymisierung ist hier jedoch problematisch, da diepraktizierte Feldforschung offenbar verändernd auf das untersuchte Feld einwirkt. Aber auch die Information im Beitrag von DOLEZEL, dass im Dorf illegale Kessel zum "Schwarzbrennen" von Schnaps existierten, könnte potenziell unangenehme Folgen fürdie beforschten Akteure haben, da die Herstellung hochprozentiger Spirituosen in Rumänien zwar weit verbreitet und häufig geduldet, aber genau genommen nicht legal ist. Dadurch besteht die Gefahr, die Einheimischen unfreiwillig "anzuschwärzen" bzw. ihnen zu schaden. [28]

Allerdings möchte ich vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen "vor Ort" die Kritik an derfehlenden Anonymisierung ein wenig entkräften: Alle diejenigen, die ich in Großpold kennengelernt habe, bringen GIRTLER ein hohes Maß an Achtung entgegen und sind – zumindest in meiner Wahrnehmung – stolz, Teil dieses auf mehrere Jahre angelegten Feldforschungsprojektes zu sein. Die "Beforschten" in Großpold nehmen die (jeweiligen Zwischen- bzw. Teil-) Ergebnisse durchaus positiv wahr und finden sich gern in den Beiträgen wieder. [29]

Sympathisch, aber zum Teil eine Recherche erforderlich machend, ist die Verwendung österreichischer Vokabeln in einigen Texten, z.B. "dag" (Dekagramm), "Paradeiser" (Tomaten), "Jause" (Zwischenmahlzeit) und "Kukuruz" (Mais). Allerdings sind in den Beiträgen auch Begriffe enthalten, die nicht erläutert werden und sich eine Recherche zu deren Bedeutungen schwierig gestaltet (bspw. "Altvater", S.265 im Beitrag von HEISS oder "Gotenkinder" im Beitrag von MAYER auf S.277). Ein Glossar wäre an dieser Stelle hilfreich gewesen. [30]

6. Fazit

Der Band behandelt das Leben der deutschsprachigen Minderheit in Siebenbürgen sehr anschaulich, vielschichtig und informativ. Die Autorinnen und Autoren zeichnen sich durch eine wertschätzende und von Respekt gegenüber dem Forschungsfeld gekennzeichnete Haltung aus. Dem Herausgeber GIRTLER gelingt es offensichtlich, Studierende und Freundeskreis zur Feldforschung zu motivieren; die dabei erzielten Ergebnisse sind spannend und außerordentlich interessant. Abgesehen von den wenigen oben angeführten Kritikpunkten handelt es sich um einen sehr schönen Band, der absolut empfehlenswert ist für Menschen, die an der Methode der Feldforschung und deren Ergebnissen interessiert sind, sich mit Randkulturen auseinandersetzen oder aber mehr über die "deutsche" Minderheit in Siebenbürgen erfahren möchten. [31]

Hervorzuheben ist die Bedeutung der (Feld-) Forschungen für die untersuchten Akteure. Sie nehmen deren Ergebnisse wohlwollend wahr, in etwa im Sinne einer (Dorf-) Chronik. Darüber hinaus handelt es sich beim hier rezensierten Buch nicht zuletzt um ein zeitgeschichtliches Dokument zur deutschen Minderheitskultur in Rumänien, diegegenwärtig aufgrund vielfältiger politischer, demografischer und sozialer Veränderungsprozesse einem rapiden sozialen Wandel unterworfen ist. [32]

Danksagung

Dieser Beitrag ist Chris und insbesondere Seppi gewidmet, deren Gastfreundschaft ich genießen durfte. Ich bedanke mich zudem bei Rudolf SCHMITT für wertvolle Anmerkungen.

Anmerkungen

1) Traditionell wurde die Arbeit des Totengräbers von der Nachbarschaft übernommen. Da die "deutsche" Bevölkerung gegenwärtig meist aus älteren Menschen besteht, kann dies nicht aufrechterhalten werden, denn sie kann diese körperlich schwere Arbeit oftmals nicht (mehr) bewältigen.  

2) Das Wort "Zigeuner" ist nicht abwertend gemeint, sondern geht auf die Selbstbezeichnung der Roma in Rumänien zurück, die dem rumänischen Wort "Ţigani" (das "Ţ" wird wie ein "Z" gesprochen, also "Zigani") entlehnt ist.  

3) Siehe http://www.qualitative-forschung.de/fqs-supplement/members/Girtler/girtler-10Geb-d.html 

Literatur

Glaser, Barney & Strauss, Anselm (1998). Grounded Theory. Strategien qualitativer Sozialforschung. Bern: Verlag Hans Huber.

Girtler, Roland (1995). Randkulturen. Wien: Böhlau.

Girtler, Roland (1997). Die letzten Verbannten. Der Untergang der altösterreichischen Landler in Siebenbürgen/ Rumänien. Wien: Böhlau.

Girtler, Roland (2001). Methoden der Feldforschung. Wien: UTB/ Böhlau

Honer, Anne (2000). Lebensweltanalyse in der Ethnografie. In Uwe Flick, Ernst von Kardorff & Ines Steinke, Ines (Hrsg.),Qualitative Forschung. Ein Handbuch (S.194-204). Reinbek: Rowohlt.

Zum Autor

Sebastian SCHRÖER, Dipl. Sozialarbeiter/Sozialpädagoge (FH), Promotionsstudent an der TU Dresden im Fach Soziologie am Lehrstuhl für Mikrosoziologie, Thema der Dissertation: "HipHop als Jugendkultur? – Eine ethnografische Studie". In FQS findet sich eine weitere Besprechung von Sebastian SCHRÖER zu einem von Winfried BREYVOGEL herausgegebenen Lehrbuch zum Thema Jugendkulturen (http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0703279).

Kontakt:

Sebastian Schröer

c/o JT SPIKE (Altstrehlen 1 e.V.)
Karl-Laux-Str. 5
D-01219 Dresden

Tel.: 0351-4769687
Fax: 0351-4772835

E-Mail:  Diese E-Mail-Adresse ist gegen Spambots geschützt! JavaScript muss aktiviert werden, damit sie angezeigt werden kann.
URL: 
http://www.SozSchroeer.de/

Zitation

Schröer, Sebastian (2009). Rezension: Roland Girtler (Hrsg.) (2007). Das letzte Lied vor Hermannstadt. Das Verklingen einer deutschen Bauernkultur in Rumänien [32 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research11(1), Art. 18, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs1001189.